Teil 4: Brüche und Krisen der gesellschaftlichen Entwicklungen

Es geht darum verbindende Interessen, Forderungen und Konzepte zu formulieren, die der Zersplitterung und Ausgrenzung entgegenwirken und gemeinsame Klasseninteressen herstellen können.

Mit dem Text "Brüche und Krisen der gesellschaftlichen Entwicklungen" habe ich mehrere Thesen für das Verständnis und die Politik der Partei DIE LINKE formuliert, die ich hier in den nächsten Tagen in 5 Teilen veröffentliche. Im vierten Teil befasse ich mich mit verbindender Klassenpolitik und unserem Verhältnis zu den Gewerkschaften:

Der Begriff der verbindenden Klassenpolitik hat längst Eingang in unsere Partei gefunden. In den letzten Monaten, besonders in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Interpretationen der Wahlniederlage bei den Bundestagswahlen, wird am Konzept der verbindenden Klassenpolitik Kritik geäußert. Alban Werner bezeichnete den Begriff im Sozialismus als Buzzwort (Schlagwort) in einem Artikel unter der Überschrift „Eine Partei in schrittweiser Auflösung“ siehe auch Antwort von Bernd Riexinger in Sozialismus 2/2023). Jan Richter, Susanne Ferschl und Ulrike Eifler (ebenfalls in Sozialismus) bezeichneten das Konzept als beliebig. Eine nähere Begründung hatten sich die genannten Autoren erspart (s. auch die sehr gute Erwiderung von Thomas Goes in Links aktiv). Hinter dem Konzept der verbindenden Klassenpolitik steht der Ansatz einen stärkeren Bezug zu den Lohnabhängigen, ihren Interessen und Kämpfen herzustellen. Gleichzeitig wurde analysiert, dass die lohnabhängige Klasse, befeuert durch die Agenda 2010, stark gespalten und zersplittert ist, besonders in einerseits prekär und andererseits noch sozial und tariflich regulierter Beschäftigungsverhältnissen. Diese Spaltung hat die Gewerkschaften geschwächt und ihre Fähigkeit Tarifverträge für die Mehrheit der Beschäftigten abzuschließen eingeschränkt. Das Konzept der verbindenden Klassenpolitik fand darin seinen Ursprung. Es geht darum verbindende Interessen, Forderungen und Konzepte zu formulieren, die der Zersplitterung und Ausgrenzung entgegenwirken und gemeinsame Klasseninteressen herstellen können. Statt Abgrenzung nach Unten (Prekär Beschäftigte und prekär Lebende) und Außen (Geflüchtete, Migranten*innen) ist der Gegnerbezug zum Kapital entscheidend. Der Begriff der Solidarität ist vor diesem Hintergrund weiter zu entwickeln. Ausfluss dieses Verständnisses war (2017 Becker/Riexinger, Supplement der Zeitschrift Sozialismus) ein Vorschlag für ein neues Normalarbeitsverhältnis, also für eine umfassende Neuregulierung der Arbeitsbeziehungen. In Anlehnung an die Kommunistische Partei Italiens (KPI) in den 60er Jahren beschränkt sich das Konzept nicht nur auf das direkte Lohnarbeitsverhältnis in den Betrieben, sondern auch auf die reproduktiven Bereiche, wie Wohnen/Miete, Gesundheitsversorgung, Erziehung und Bildung usw. Die KPI und linke Gewerkschaften in Italien nannten das den zweiten Scheck. Damit wurde gleichzeitig die Idee der verbindenden Partei aufgegriffen, die die direkten Kämpfe um Löhne und Arbeitsbedingungen mit den sozialen Kämpfen und Bewegungen verknüpft. Es ist schon eine Frechheit, den Begriff der verbindenden Klassenpolitik als nichtssagendes, „weil letztlich alles umfassendes Buzzword“ abzutun.

Wir tun gut dran dieses Konzept weiter zu verfolgen und praktisch auszufüllen. Indirekt geht es den Kritikern um die Orientierung auf ein Bündnis von Klimabewegung, Gewerkschaften und Linken, das sie, meist unausgesprochen, fragwürdig finden. Praktisch haben das Ver.di und Friday for Future bereits umgesetzt, indem sie auf der Basis gemeinsamer Interessen ein Bündnis zwischen Gewerkschaft und Klimabewegung geschlossen haben (dazu eine interessante Broschüre der RLS „Mein Pronomen ist Busfahrerin“). Sowohl beim Klimaschutz, wie auch bei den Kämpfen um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen der Verkehrsbeschäftigten handelt es sich um Klassenauseinandersetzungen. Bündnisse mit der Mieter*innenbewegung, mit den Kämpfen der Beschäftigten im Gesundheitsbereich und der Pflege sind weitere Beispiele für diesen Ansatz, der weit über das gewinnen von Wähler*innenstimmen hinausgeht.

Beim Streik der Verkehrsbetriebe Anfang März wurde von den Arbeitgeberverbänden die Gewerkschaft ver.di heftig kritisiert, weil sie gemeinsam mit Friday for Future gestreikt hat und auf die Straße gegangen ist. Gerade linke Aktivisten hatten erheblichen Anteil daran, dass diese Bündnisse vor Ort gelebt wurden. Das ist in der Praxis gar nicht so einfach, weil es von Teilen der Betriebsräte und Vertrauensleuten Vorbehalte gibt. Es gibt jedoch viele positive Beispiele. So wurden z.B. in Stuttgart Aktivisten von FfF Zugang zu den Betriebshöfen ermöglicht. Am internationalen Frauentag streikten besonders die überwiegend weiblichen Belegschaften in der sozialen Arbeit und gingen mit vielen feministischen Frauengruppen und Bündnissen auf die Straße. Ich bin noch ganz beeindruckt von der Kundgebung und Demonstration in Stuttgart mit über 5000 Teilnehmer*innen. Das ist eine wichtige Öffnung von ver.di und teilweise anderen Gewerkschaften gegenüber den sozialen, feministischen und ökologischen Bewegungen. Diese Ansätze zu verfestigen und vor Ort stabile Bündnisstrukturen aufzubauen, ist eine wichtige Aufgabe unserer Partei. Hilfreich ist, wenn es regionale Gruppen der Bundesarbeitsgemeinschaft BAG(Betrieb und Gewerkschaft) gibt. Deshalb sollten die Kreisverbände deren Aufbau aktiv unterstützen.

Für kämpferische Gewerkschaften und offensive Wahrnehmung des politischen Mandates

Als Alternative zur verbindenden Klassenpolitik wird dann die stärkere Hinwendung oder auch Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften genannt. Das ist kein wirklicher Widerspruch. Natürlich sollen Mitglieder der Linken auch Mitglied der Gewerkschaften werden und sich dort für die Interessen der Lohnabhängigen stark machen. Gewerkschaften sind in besonderen Maße Bezugspunkt für Linke, gerade weil sie Interessen der Lohnabhängigen gegen das Kapital direkt in den Betrieben vertreten. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie das tatsächlich immer tun oder die vorhandene Kampfkraft in ausreichendem Maße einsetzen, geschweige denn, dass sie selbst verbindende Klassenpolitik praktizieren. Es gibt in erheblichem Maße Co. Management, eine starke Orientierung an der Sozialdemokratie und u.a. deshalb eine starke Zurückhaltung gegen eine SPD geführte Regierung auf die Straße zu gehen. Gerade in der Ausübung des politischen Mandats gibt es viel Luft nach oben. Linke in den Gewerkschaften stehen für einen konfliktorientierten und kämpferischen Kurs, für ein immer wieder neu auszulotendes Kräfteverhältnis in der Praxis. Sie stehen für basisorientierte Politik und für die Demokratisierung von Arbeitskämpfen. Dazu gehört auch die Mobilisierung im politischen Raum. Es ist kaum vorstellbar, dass ohne eine politische Verschiebung der Kräfteverhältnisse nach links die Tarifbindung erweitert werden oder erfolgreich die Prekarisierung der Arbeit bekämpft werden können. Genauso wenig, wie die Forderungen nach mehr Personal und bessere Bezahlung in der Pflege, Bildung und Erziehung eingelöst oder auskömmliche Renten durchgesetzt werden können.

Wir erleben gerade in Frankreich, bei einem ähnlich schlechten Organisationsgrad, heftige Kämpfe um die Verlängerung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre, bei denen Millionen auf die Straße gehen. Etwas Ähnliches hat es in Deutschland bei der Verlängerung auf 67 Jahre nicht gegeben. Ich war verwundert, als Eifler, Ferschl und Richter im genannten Artikel kritisierten, dass auf Initiative der Grundsatzabteilung ins Wahlprogramm die Aussage reingenommen wurde, in Tarifauseinandersetzungen müsste mindestens der Ausgleich der Inflationsrate vereinbart werden, weil dieser Anspruch (der ja nicht einmal an die Gewerkschaften gerichtet war) von den Gewerkschaften nicht einzulösen wäre. Fast zeitgleich hatte die österreichische Bahngewerkschaft ein Angebot von 9 Prozent mit der Begründung abgelehnt, das würde die Inflation nicht ausreichend ausgleichen. Es geht hier nicht um einfache Vergleiche unterschiedlicher Bedingungen, aber es gibt offensichtlich Gewerkschaften, die um einen ausreichenden Inflationsausgleich kämpfen, auch in Deutschland. Aktuell z.B ver.di bei der Post. Auf den ersten Blick liegt der Abschluss oberhalb der Inflationsrate, bei den unteren und mittleren Tarifgruppen sogar deutlich. Beim Bund und den Kommunen geht es um das gleiche Ziel. Die Mobilisierung ist erfolgreich, ein Erzwingungsstreik wahrscheinlich geworden. Außerdem gelingt ver.di eine zeitgleiche Mobilisierung und Warnstreiks in verschiedenen Branchen, z.B. Post und öffentlicher Dienst. Erstmals gibt es eine gemeinsame Streikplanung von ver.di und der EVG im Verkehrsbereich.

Die Formel, Inflationsrate- plus Produktivitätsausgleich plus Umverteilung bildeten Jahrzehnte lang die Grundlage für Tarifforderungen. Es ist kein Naturgesetz, welches den Gewerkschaften vorschreibt Reallohnverluste akzeptieren zu müssen. Vielmehr sollten Linke die Frage stellen, woher die Schwäche kommt, dass sie sich das vielerorts nicht mehr zuzutrauen. Der Rückgang auf inzwischen noch 5,7 Millionen DGB-Mitglieder hat nicht nur etwas mit Strukturwandel sondern auch mit gewerkschaftlicher Politik zu tun. Wir sehen gerade in England eine sektorenübergreifende Streikbewegung, bei der täglich tausende von neuen Gewerkschaftsmitglieder aufgenommen werden. Ver.di hat dem Vernehmen nach 65 000 Mitglieder (Stand Mitte März) während der laufenden Warnstreiks aufgenommen. Damit wird bestätigt, dass bei guter Mobilisierung Warnstreiks und Streiks den Organisationsgrad erhöhen, was dringend notwendig ist.

Es würde in Deutschland genügend Gründe geben mehr Arbeitskämpfe gegen Reallohnverluste und für bessere Arbeitsbedingungen zu organisieren und gegen die unzureichenden Maßnahmen der Regierung, gegen die Verteuerung der Energiepreise auf die Straße zu gehen. Es ist Ausdruck von Schwäche, dass das kaum passiert und falscher Rücksichtnahme auf eine SPD geführte Bundesregierung. Es geht hier nicht um Voluntarismus, aber um die Notwendigkeit solidarischer Kritik an der vorherrschenden Ausrichtung der meisten Gewerkschaften. Es geht um eine Politik, die die Gewerkschaften stärken und die Kräfteverhältnisse verbessern würde. Deshalb geht es nicht um eine einfache Zuwendung zu den Gewerkschaften, sondern um die Stärkung konfliktorientierter und kämpferischer Politik, wie auch um eine Repolitisierung der Gewerkschaften nach links.