Demokratisierung von Streiks

Bernd Riexinger sprach in der Eröffnungsrede zur Konferenz "Erneuerung durch Streik" über die Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit.

450 TeilnehmerInnen besuchten die dreitägige Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit ver.di in Stuttgart vom 1. bis 3. März 2013.

Bernd Riexinger sprach in der Eröffnungsrede zur Konferenz "Erneuerung durch Streik" über die Revitalisierung der Gewerkschaftsarbeit. 450 TeilnehmerInnen besuchten die dreitägige Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit ver.di in Stuttgart vom 1. bis 3. März 2013.

Broschüre zur Konferenz als PDF:

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die von der Hans-Böckler-Stiftung ermittelten Zahlen zur Streikfreudigkeit der Gewerkschaftsmitglieder in Deutschland sind durchaus ermutigend. Die Zahl der an Warnstreiks und Streiks beteiligten Beschäftigten hat sich 2012 gegenüber dem Vorjahr mehr als versechsfacht. Steigerungen habe es auch bei der Konflikthäufigkeit gegeben. Insgesamt verzeichnen wir für 2012 mehr als 250 Streiks und Warnstreiks, wobei der Dienstleistungsbereich diesbezüglich einen neuen Rekord erzielte.

All das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Deutschland nach wie vor relativ wenig gestreikt wird. Ein internationaler Vergleich zeigt, dass unter den Industrieländern nur noch die Schweiz weniger Ausfalltage durch Streiks aufzuweisen hat als Deutschland. Da besteht also durchaus noch Luft nach oben. Vielleicht ist das ein Grund, warum in den letzten Jahren viel über durchaus wichtige Themen wie organizing oder campaigning geschrieben und geforscht wurde, aber wenig über das wichtigste Mittel der Gewerkschaften, ihre Forderungen durchzusetzen: den Streik. Vielleicht hängt es auch damit zusammen, dass wir in den letzten 20 Jahren kaum größere und längere Flächenstreiks im industriellen Sektor erlebt haben und viele bei heroischen Kämpfen der Arbeiterklasse weiterhin zuerst an die Streiks der Drucker und Metaller denken und nicht so sehr an Verkäuferinnen, Erzieherinnen oder Reinigungskräfte.

Dabei hat sich gerade in diesen und anderen Bereichen in den letzten zehn Jahren viel getan. Fanden größere Streiks im öffentlichen Dienst bis zur Jahrtausendwende eher in einem 15-Jahre-Rythmus statt, so kam es seit 2005 zu zahlreichen bundesweiten und regionalen Arbeitskämpfen, bei denen zum Teil wochenlang gestreikt wurde. Ich erinnere nur an den neunwöchigen Streik in Baden-Württemberg (2005/2006) gegen die Verlängerung der Arbeitszeit [BG1] oder an den sechswöchigen bundesweiten Streik der Erzieherinnen und Erzieher 2009 für eine bessere Eingruppierung und einen besseren Gesundheitsschutz. Erstmals in der Nachkriegszeit streikten 2009 auch Reinigungskräfte, aufgerufen von der IG BAU. Über ein Jahr (2008/2009) dauerte der bisher längste und härteste Tarifkonflikt im Einzelhandel um den Erhalt des Flächentarifvertrages, in dem erstmals Verkäuferinnen und Verkäufer in verschiedenen Betrieben wochenlang streikten – bis dato eher unvorstellbar. Ich erinnere darüber hinaus an die wochenlangen Streiks beim Catering-Unternehmen Gate Gourmet (2005/2006) in Düsseldorf und am Berliner Universitätskrankenhaus Charité [BG2] (2011) oder aktuell an den Streik bei Neupack in Hamburg.

Einer der ersten bedeutsamen Streiks der IG BCE [BG3] findet also nicht bei einem der großen Chemiekonzerne statt, sondern in einer nicht tarifgebundenen Verpackungsfirma. Streikte die ruhmreiche IG Druck und Papier 1976 noch für Besetzungsregelungen an den Maschinen, so werden die in ver.di organisierten Kolleginnen und Kollegen von der Charité voraussichtlich mit der Forderung nach einer personellen Mindestbesetzung in einen neuen Arbeitskampf gehen. Auch in der Nahrungsmittelindustrie kommt es regelmäßig zu größeren Streiks, die von der Öffentlichkeit jedoch meist übersehen werden. Nicht vergessen werden sollte auch der wochenlange Streik von Journalistinnen und Journalisten, die auf die Straße gegangen sind[BG4] , weil ihren neu eingestellten jüngeren Kolleginnen und Kollegen deutlich weniger bezahlt werden sollte, oder der erfolgreiche Streik der Beschäftigten im Sparkassen-Callcenter S-Direkt in Halle, der 126 Tage dauerte. Derzeit fallen auf verschiedenen Flughäfen immer wieder Flüge aus, weil das Sicherheitspersonal streikt und mit einer 30-prozentigen Lohnforderung auf sich aufmerksam macht.

Hinter diesen Verschiebungen an der Streikfront stehen massive Veränderungen in der Zusammensetzung der «Arbeiterklasse» und massive Umstrukturierungen in Produktion und Verteilung. Betrachten wir allein die Beschäftigungsentwicklung, so hat die Bedeutung der klassischen Industriesektoren zweifellos ab- und die des Dienstleistungsgewerbes zweifellos zugenommen. So arbeiten in der Automobilindustrie 747.000 Menschen und bei den Zulieferern eine Million, im Gesundheitswesen unterdessen jedoch sechs Millionen Menschen. Diese Verschiebung ist jedoch nicht nur quantitativer Natur. Auch tarifpolitisch gab es dramatische Veränderungen vor dem Hintergrund einer nunmehr fast 30 Jahre anhaltenden neoliberalen Politik. War es bis Mitte der 1980er Jahre relativ üblich, dass die großen und kampfstarken Branchen der Metallindustrie oder in eingeschränktem Maße des öffentlichen Dienstes die tarifliche Leitwährung bestimmten und deren Tarifabschlüsse in vielen anderen Branchen, gerade des Dienstleistungsbereiches, mehr oder weniger vollständig übernommen wurden, hat sich dies gravierend verändert. Gelang es im industriellen Sektor der IG Metall oder auch in der Chemieindustrie, das Bezahlungsniveau – zumindest für die Beschäftigten, die unter die Tarifverträge fallen – zu halten und die übrigen Bedingungen noch zu regulieren, kann davon im Dienstleistungssektor keine Rede sein. Gerade dort sind die Angriffe auf die Löhne und Arbeitsbedingungen besonders scharf und besonders erfolgreich, vor allem in den neuen Branchen, die häufig weder Betriebsräte noch gewerkschaftliche Organisierung kennen, wie der Bereich der Leiharbeit, die Callcenter, der private Gesundheitssektor, die Werbebranche oder die neuen Medien. Hier müssen häufig auch Akademikerinnen und Akademiker die Erfahrung machen, dass sie nach ihrem Studium zunächst im Niedriglohnbereich unter extrem prekären Bedingungen arbeiten müssen. Die Prekarisierung der Beschäftigungsverhältnisse und niedrige Löhne kennzeichnen heute viele Sektoren des Dienstleistungsgewerbes, ohne dass bisher eine klare Gegenstrategie der Gewerkschaften erkennbar wäre. Zudem scheiterten viele der bislang erprobten Ansätze an einem latenten Ressourcenmangel.

Die Deregulierung hat, was leicht empirisch nachweisbar ist, durch die Agenda-2010-Politik der Schröder-Fischer-Regierung einen gewaltigen Schub bekommen. Gerhard Schröder ist heute noch stolz darauf, «dass wir inzwischen den besten [BG5] Niedriglohnsektor in Europa haben». Dazu kommt noch die abnehmende Tarifbindung. Im Osten fallen deutlich unter 40 Prozent der Beschäftigten überhaupt noch unter Tarifverträge, im Westen sind es auch nur noch etwa 60 Prozent. Ausgliederungen, Werkverträge, Austritte aus den Arbeitgeberverbänden oder Mitgliedschaften in Arbeitgeberverbänden ohne Tarifbindung sorgen dafür, dass von den erkämpften oder ausgehandelten Tarifergebnissen immer weniger Beschäftigten tatsächlich profitieren können. Vor kurzem stellte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung fest, dass die Reallöhne unter das Niveau von 2000 gesunken sind. Das ist zu einem nicht unerheblichen Teil der sinkenden Tarifbindung geschuldet, weil in den nicht tarifgebundenen Bereichen der Reallohnverlust überdurchschnittlich hoch ausfällt.

Mir geht es nicht darum, mit meinem Beitrag eine depressive Stimmung zu verbreiten, ganz im Gegenteil. Ich will deutlich machen, wie wichtig es für die Gewerkschaftsbewegung ist, die Organisierungsanstrengungen in den beschriebenen Bereichen zu erhöhen. Gerade die Erfahrungen mit Streiks zeigen, dass dies möglich und es nicht so schwierig ist, kämpferische Belegschaften in den Betrieben aufzubauen und zu unterstützen, hat man dort erst einmal Fuß gefasst und setzt auf die richtigen Methoden. Wir haben diese Konferenz organisiert, weil wir der Überzeugung sind, dass sich Erfahrungen aus erfolgreichen Streiks in der Vergangenheit bis zu einem gewissen Maße übertragen lassen. Natürlich gibt es Besonderheiten bei den Betrieben und Branchen, bei den regionalen, personellen und anderen Strukturen zu berücksichtigen. Trotzdem behaupte ich, dass sich bestimmte Methoden und Erfahrungen verallgemeinern lassen. Es wäre eine dringliche Aufgabe für die Gewerkschaften, die vielfältigen Streikerfahrungen auszuwerten, zu bündeln und zu verbreitern sowie haupt- und ehrenamtliche Funktionäre so zu schulen und zu qualifizieren, dass die Streikfähigkeit in vielen Bereichen hergestellt und in anderen erheblich verbessert werden kann. Die Gewerkschaften würden dadurch gerade in Bereichen an Mächtigkeit [BG6] gewinnen, in denen sie noch immer nicht hinlänglich in der Lage sind, gute Tarifergebnisse zu erzielen oder überhaupt Arbeitskämpfe zu führen.

Ich will den Versuch machen, aus den vielfältigen Erfahrungen, insbesondere im Stuttgarter ver.di-Bezirk, aber auch aus Beobachtungen in anderen Bezirken und Branchen heraus einige Grundsätze für Streiks und Streikbewegungen zu benennen.

1. Organisierung durch Streiks

Galt früher meistens der Grundsatz, dass Streiks erst möglich sind, wenn Belegschaften über einen guten Organisationsgrad und über gewerkschaftliche Vertrauensleutestrukturen[BG7]  verfügen, gilt das für viele Streiks der letzten Jahre nur noch eingeschränkt oder gar nicht. Gerade im Handel, aber auch in Teilen des öffentlichen Dienstes sowie in Banken und Versicherungen gab es in den letzten Jahren – trotz eines unterdurchschnittlichen gewerkschaftlichen Organisationsgrades – eine Reihe recht erfolgreicher Arbeitskämpfe. Voraussetzung waren in aller Regel eine ausreichende Zahl an betrieblichen Ansprechpartnern und ein mobilisierungsfähiger Gewerkschaftsapparat. Immer noch bilden in den meisten Betrieben die Gewerkschaftsmitglieder das Rückgrat von Streiks, jedoch zeigt sich häufig, dass viele Unorganisierte bereit sind mitzumachen. Zahlt die Gewerkschaft bereits ab dem ersten Streiktag Streikgeld und gehen diese Warnstreiks mindestens einen vollen Tag, organisieren sich zum Teil ganze Betriebe über solche Streiks. Gerade für Branchen mit vielen Klein- und Mittelbetrieben oder Betriebsstätten mit wenig Beschäftigten wie den Einzelhandel, das Bewachungs- oder das Druckereigewerbe, aber auch den öffentlichen Dienst kann es wichtig sein, dass möglichst viele Betriebe und Beschäftigte gleichzeitig zum Streik aufgerufen werden und sich die Beteiligten auf zentralen Streikversammlungen treffen. Damit können selbst die Beschäftigten an Standorten mit geringerer Streikbeteiligung positive Erfahrungen der kollektiven Stärke und Kampfbereitschaft sammeln. Mit diesem Vorgehen konnte nicht nur in Stuttgart im Bereich Handel die Zahl der Streikbetriebe deutlich, von zehn auf 40, erhöht werden. Auch in fast in allen anderen Branchen, in denen ver.di aktiv ist, kam es zu einer Vervielfachung von Streiks und zu einer merklichen Steigerung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades, da die Streikerfahrungen in die Betriebe und Institutionen zurückwirken und dort die Beschäftigten stärken. Das gilt für Verkäuferinnen und Verkäufer genauso wie für Erzieherinnen und Erzieher, Pflegekräfte im Krankenhaus oder Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter bei der Postbank.

2. Vorbereitung von Streiks durch Organisierungskampagnen

Organisierungs- und Mobilisierungskampagnen werden im Allgemeinen als zusätzliche Aktionsform der Gewerkschaften betrachtet. Sie stellen Aktionsfähigkeit her, wo noch keine Streikfähigkeit vorherrscht, oder ergänzen Streiks, indem sie insbesondere in den öffentlichen Raum hineinwirken. Sie können jedoch auch eingesetzt werden, um Streiks vorzubereiten und um deren Basis zu vergrößern. So hat der ver.di-Bezirk Stuttgart mehrere große Streiks mit den Methoden des campaigning und organizing vorbereitet, darunter den langen Streik im Einzelhandel um den Erhalt des Manteltarifvertrages, den neunwöchigen Streik um die Arbeitszeit, unter dem Motto «38,5 bleibt, sonst streikt' s», den sechswöchigen Streik der Erzieherinnen und Erzieher um eine bessere Eingruppierung und die Lohn- und Gehaltstarifrunden unter dem Motto «Die nächsten Milliarden für uns». Die in den Kampagnen angewandten Methoden und Vorgehensweisen sind meistens ähnlich. Ein Kreis von ehren- und hauptamtlichen Kolleginnen und Kollegen erarbeitet frühzeitig einen Kampagnenplan und entwickelt ein Motto sowie einen Aktionsplan. In der Regel werden drei Phasen geplant: erstens die Aufklärungsphase, zweitens die Phase von Aktionen unterhalb von Warnstreiks und Streiks und drittens die Phase der konkreten Mobilisierung für Warnstreiks und Streiks. Der Diskussionsprozess in den Betrieben und im Bezirk über die Streikforderungen ist Bestandteil der Kampagnen. Ziel ist immer, die Beschäftigten aufzuklären, sie frühzeitig auf die Notwendigkeit von Warnstreiks und Streiks einzustimmen und mit konkreten Aktionen den Boden dafür zu bereiten sowie im Vorbereitungsprozess von Tarifrunden neue Mitglieder zu gewinnen. Das setzt natürlich voraus, dass es einen bewussten und entschlossenen Kreis von ehren- und hauptamtlichen Funktionären gibt, die auch in ihren Betrieben verankert sind.

3. Entschlossenheit und Stärke zeigen

Natürlich haben wir sehr unterschiedliche Bedingungen für die Organisierung von Arbeitsniederlegungen. Es ist bislang nicht die Regel, dass gut organisierte und kampfbereite Belegschaften mit einem ausgeklügelten Plan in den Streik geführt werden. Bestenfalls wechseln sich, wie zum Beispiel in den kommunalen Betrieben und Verwaltungen, gut organisierte Arbeitskämpfe mit sehr schlecht organisierten ab. In vielen Bereichen entsteht erst während der Tarifauseinandersetzungen so etwas wie eine größere Kampfkraft und -bereitschaft wie beispielsweise im Einzelhandel, im Bewachungsgewerbe, in der Logistik oder auch im Finanzdienstleistungsbereich. In vielen Branchen haben wir daher die Strategie entwickelt, am Anfang der Streikphase Stärke zu zeigen, indem wir weitgehend alle Beschäftigten zu einem ganztägigen Streik aufrufen, zu einer zentralen Streikversammlung mobilisieren und in aller Regel eine gemeinsame Demonstration durch die Innenstadt organisieren, die mit einer öffentlichen Kundgebung endet. Danach können sich die Streiks, je nach Taktik und Möglichkeiten, auch wieder etwas diversifizieren. In aller Regel werden jedoch bei längeren Streiks alle Beteiligten wenigstens einmal in der Woche zu einem gemeinsamen Streiktag mit öffentlicher Demonstration und Kundgebung aufgerufen. So wird allen Streikteilnehmerinnen und -teilnehmern vor Augen geführt, auch denen in den kleineren und schwach organisierten Betrieben, dass wir als Gewerkschaften über Stärke und Macht verfügen.

4. Umfassend besetzte Streikleitungen verbessern die Mobilisierung

In der Regel gab es in Stuttgart immer relativ umfassend besetzte Streikleitungen. Von allen Streikbetrieben und denen, die wir zu solchen machen wollten, wurde mindestens eine Vertreterin oder ein Vertreter in die bezirkliche Streikleitung gewählt. Von vorneherein haben die Ehrenamtlichen also ein hohes Gewicht bei der Vorbereitung und Durchführung der Streiks. Sie verschaffen sich den Überblick über die Kampffähigkeit der Beschäftigten, diskutieren, was noch getan werden muss, um diese herzustellen, bestimmen weitere Schritte und fällen wichtige Entscheidungen. Dieses Vorgehen schafft ein hohes Verantwortungsbewusstsein der Beteiligten für das Gelingen der Streikbewegung und ermöglicht gleichzeitig allen eine realistische Einschätzung der Kampfkraft.

5. Demokratisierung der Streiks und die Bedeutung von Streikversammlungen

Nach meinem Verständnis können Streiks Emanzipationsbewegungen sein, wenn die Streikenden tatsächlich zu Akteuren der Auseinandersetzung werden und nicht nur Objekte bleiben. Der so ziemlich blödeste Spruch in Tarifauseinandersetzungen ist: «Denk daran, wenn du die Leute auf die Bäume treibst, musst du sie auch wieder herunterholen.» Unser Verständnis von den Beschäftigten ist nicht das von einer Menschenhorde, die man in irgendetwas hineintreibt und der man nachher ein Ergebnis vermitteln muss, für das die Beschäftigten tatsächlich «nicht auf die Bäume geklettert sind». Schlimmer noch ist, gleich auf eine umfassende Mobilisierung zu verzichten, damit solche Probleme erst gar nicht aufkommen.

Die Kolleginnen und Kollegen sind für uns also die zentralen Streikakteure und sollten zusammen mit den Hauptamtlichen die Ziele, die Strategie und die Intensität des Arbeitskampfes sowie seine verschiedenen Aktionsformen bestimmen. Das setzt voraus, dass wir aktive Streiks und keine Wohnzimmer- oder Tapezierstreiks organisieren. Im Kern bedeutet das, jeden Tag Streikversammlung, mal kürzer, mal länger (Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel). Manchmal brauchen wir wie auch die Kolleginnen und Kollegen bei längeren Arbeitsauseinandersetzungen zwischendrin eine Pause, in der wir uns ausruhen und Kraft schöpfen können. Streiken ist nämlich anstrengend.

Auf den Streikversammlungen berichten die Vertreterinnen und Vertreter der beteiligten Betriebe, mit wie vielen Streikenden sie vertreten sind, wie die Stimmung im Betrieb ist, wie sich die Geschäftsleitung verhält und welche Probleme aufgetreten sind. Gemeinsam wird diskutiert, wie der aktuelle Verhandlungsstand und das Vorgehen der Gegenseite zu bewerten sind, wie es weitergehen soll, welche Strategien, Aktionen und Initiativen sinnvoll sind. Die Hauptamtlichen sind selbst Akteure des Streiks und nicht auf eine Moderatorenrolle beschränkt. Sie motivieren, machen Stimmung, nehmen Stellung, leiten jedoch auch die Streikversammlung. Hier wird auch über wichtige Entscheidungen abgestimmt. Unter anderem geht es um Fragen wie: Wie viele Tage soll gestreikt werden? In welchen Betrieb beginnt man den Streik? Welche Betriebe sollen später dazukommen? Wie gehen wir mit Streikbrecherinnen und Streikbrechern um, wie mit der Polizei? So wurde die wichtige Entscheidung im Streik der Müllwerker [BG8] in Stuttgart, auf den Einsatz privater Unternehmen mit der Blockade der kommunalen Müllverbrennungsanlage zu reagieren, ebenso auf einer Streikversammlung getroffen wie die, eine flexible Streikstrategie anzuwenden. Dem war eine einwöchige Diskussion auf den Streikversammlungen vorausgegangen. Ergebnis war, dass mit hoher Disziplin so gestreikt wurde, dass die Geschäftsführung der Stuttgarter Müllabfuhr nie wusste, wann die Kollegen streikten oder arbeiteten. Damit fiel es ihr auch schwerer, private Firmen als Streikbrecher einzusetzen. Ähnlich lief der Prozess der Herausbildung und Umsetzung einer flexiblen Streikstrategie bei den Erzieherinnen und Erziehern oder im Einzelhandel.

Die Demokratisierung der Streiks, deren wichtigstes Forum die Streikversammlungen sind, macht die Kolleginnen und Kollegen also zu den entscheidenden Akteuren, die zusammen mit uns, den Hauptamtlichen, für den Verlauf von Arbeitskämpfen und deren Ergebnis verantwortlich sind. Das setzt nicht nur Fantasie frei, sondern gibt den Streiks auch eine ungeheure Stärke, die kaum gebrochen werden kann. Sie verlangt von den Streikleitungen in den Betrieben allerdings auch die Entwicklung einer offenen Diskussionskultur und die Bereitschaft, Konflikte mit allen Streikbeteiligten auszuhalten und auszutragen.

6. Neue Streikformen und Herausbildung einer eigenen Streikkultur

Im Dienstleistungsbereich können Streiks und Arbeitsniederlegungen selten einen vergleichbaren ökonomischen Druck wie in kapitalintensiven Industriebetrieben entfalten. So gibt es im öffentlichen Dienst wenig Bereiche, in denen von Gewerkschaftsseite der Gegenseite ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden zugefügt werden kann. Deshalb sind Arbeitskämpfe im öffentlichen Dienst mehr oder weniger immer auch politische Auseinandersetzungen, bei denen entscheidend ist, ob es gelingt, die öffentliche Meinung und Bevölkerung auf die eigene Seite zu ziehen oder sie zumindest nicht an die Seite des Gegners zu treiben. Auch in Kaufhäusern und anderen Einzelhandelsbetrieben sind Streiks nicht gerade eine einfache Angelegenheit. Sehr heterogene Belegschaftsstrukturen, eine Menge Minijobs und Aushilfen, viele befristete Arbeitsverträge, eine große Abhängigkeit der Führungskräfte von der Geschäftsleitung sowie dezentrale Firmenstrukturen machen es nicht gerade leicht, ökonomischen Druck auszuüben. Ähnlich ist es im Bewachungsgewerbe, bei Banken und Versicherungen, und selbst bei der Telekom musste sehr lange gestreikt werden, um die Forderungen der Beschäftigten durchzusetzen. All das führt dazu, dass Tarifauseinandersetzungen im Dienstleistungsgewerbe häufig sehr lange dauern, viele verschiedene Phasen durchlaufen und an Haupt- wie Ehrenamtliche hohe Anforderungen stellen.

Im Unterschied zu industriellen Streiks finden sie jedoch auch in hohem Maße im öffentlichen Raum statt, sind doch Patientinnen und Patienten, Eltern und viele Menschen in ihrer Eigenschaft als Kundinnen und Kunden direkt von ihnen betroffen. Daraus kann auch eine Stärke werden, wenn wir es schaffen, neue Streikformen zu entwickeln und ein breites Umfeld mit einzubeziehen. So ist es zum Beispiel beim Einzelhandelsstreik 2006/2007 nicht nur gelungen, die Streikintensität zu erhöhen, sondern auch eine neue Streikkultur herauszubilden. Bis dato war es im Einzelhandel, von rühmlichen Ausnahmen einmal abgesehen, üblich, ein oder zwei Tage zu streiken und dies im Laufe einer Tarifrunde vielleicht einmal zu wiederholen. In der Tarifrunde von 2006/2007 gab es Betriebe, die innerhalb eines Zeitrahmens von 15 Monaten 20 Wochen und mehr streikten. Besonders hervorgetan haben sich dabei junge Beschäftigte von H & M und Zara, darunter sehr viele Migrantinnen und Migranten, die zum entscheidenden Motor der damaligen Streikbewegung wurden. Aber auch andere Beschäftigte, die bei Schlecker, Kaufhof, Karstadt, Kaufland oder in Filialbetrieben arbeiten, streikten in bis dahin unbekanntem Ausmaße. Es ging auch um viel: Schließlich stand der gesamte Flächentarifvertrag auf dem Spiel. War es bis dato üblich, nach dem Streikbeginn schnell ins Gewerkschaftshaus zu verschwinden, um dem Gezerre der Führungskräfte zu entgehen, beschlossen die Beschäftigten diesmal, die Bevölkerung direkt mit ihrem Streik zu konfrontieren. Lautstark zogen sie von Kundeneingang zu Kundeneingang ihrer Arbeitsstätten, sangen Streiklieder, die wie aus dem Nichts entstanden, bildeten Ketten, verteilten Informationsmaterial und hielten Reden, meistens das Megafon in den Verkaufsraum gerichtet. Trotz eines generellen Demonstrationsverbots auf der Haupteinkaufsstraße gehörte die Stuttgarter Königsstraße monatelang den Streikenden. Menschenketten, Performances und viele andere Aktivitäten sorgten dafür, dass die Gegenseite nie zur Ruhe kam. In manchen Betrieben konnten neue Streikformen ausprobiert werden. So erschienen in einigen Läden und Kaufhäusern die Kolleginnen und Kollegen zunächst zur Arbeit, sodass die Geschäftsführung von einem streikfreien Tag ausging. Die Streikbrecherinnen und Streikbrecher wurden daraufhin heimgeschickt. Dann tauchte eine Vertreterin oder ein Vertreter der Gewerkschaft mit einem Megafon auf, rief zum Streik auf, woraufhin die Beschäftigten die Kassen und Verkaufsräume verließen und sich auf der Straße versammelten. Es gehört viel Mut dazu, bei einer langen Schlange vor der Kasse diese einfach abzuschließen und den verdutzten Kundinnen und Kunden zu sagen: «Tut mir leid, ich kann jetzt nicht abkassieren. Meine Gewerkschaft hat mich gerade zum Streik aufgerufen.» Aber es klappte. Auch Flashmobs gehörten zu den neuen Aktionsformen. So hat es einigen Vertrauensleuten vom Daimler riesigen Spaß bereitet, ihre anarchistischen Triebe in der Schuhabteilung des Stuttgarter Kaufhofes auszuleben.

Ich will hier nicht mit all zu vielen praktischen Erfahrungen langweilen, aber ein wirklich gutes Beispiel für neue Streikformen ist der Arbeitskampf der Beschäftigten der Stuttgarter Straßenbahnen (SBB) 2011. Die Kolleginnen und Kollegen hatten auch aufgrund der Unzufriedenheit mit den Tarifabschlüssen in der Fläche[BG9]  entschieden, eine Sondertarifrunde zu starten, um höhere Sonderzahlungen und Zuschläge sowie mehr freie Tage durchzusetzen. Schnell war klar, dass es zum Streik kommen würde. Nun sind Streiks bei öffentlichen Verkehrsbetrieben einerseits sehr wirkungsvoll, weil man sicherstellen kann, dass kein Bus und keine Bahn den Betriebshof verlässt. Andererseits üben sie keinen ökonomischen Druck auf den Eigentümer aus. Öffentliche Verkehrsbetriebe sind in der Regel Zuschussbetriebe, und bei einem Streik freut sich der kaufmännische Direktor in der Regel, dass ihm die Gewerkschaft die Gehälter bezahlt. Dauert der Konflikt allerdings länger, gibt es größeren Ärger mit den Fahrgästen, die nicht pünktlich zur Arbeit oder zur Schule kommen. Deshalb entwickelten die Kolleginnen und Kollegen in Stuttgart eine etwas andere Strategie. Von den etwa 15 Streiktagen entfielen nur 4,5 auf die Fahrerinnen und Fahrer der Busse und Bahnen. Dafür streikten die meist weiblichen Beschäftigten in den Servicebüros sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Werkstätten umso länger. Dadurch dass kaum mehr Fahrkarten verkauft wurden, gingen die Einnahmen um einen sechs- bis siebenstelligen Betrag zurück. Zugleich wurden die Fahrkartenkontrolleure in den Streik einbezogen, sodass die Menschen ungestraft die Busse und Bahnen nutzen konnten, ohne zu zahlen. Streiken bei Verkehrsbetrieben die Beschäftigten der Werkstätten längere Zeit, so können aus technischen Gründen immer weniger Busse und Bahnen die Depots verlassen. Mit einer relativ kleinen Zahl von Streikenden wird so ein verhältnismäßig großer Druck erzeugt und gleichzeitig die Bevölkerung geschont. Die Geschäftsleitung der SBB wurde ob dieser Taktik so nervös, dass erstmals in der Geschichte des öffentlichen Dienstes in Stuttgart die Belegschaft für einen Tag ausgesperrt wurde. Diese Aussperrung musste jedoch nach heftigen Protesten schnell wieder beendet werden und trug eher zum Erfolg des Arbeitskampfes bei. Auch die Beschäftigten der Stuttgarter Straßenbahnen entdeckten in ihren Auseinandersetzungen den großen Nutzen von Streikversammlungen, etwas, das sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht kannten.

Sollen alternative Streikformen zur Anwendung kommen, bedarf es im übertragenen Sinne neuer Räume, in denen neue Ideen entstehen können, wo die Bereitschaft wächst, Grenzen zu verschieben, der Mut, etwas Neues auszuprobieren, wo Vertrauen in die Fantasie der Streikenden gestärkt wird sowie der Willen und die analytische Kraft, den Gegner dort zu treffen, wo er meisten verwundbar ist.

7. Öffentlichkeit herstellen und öffentliche Räume besetzen

Wie schon erwähnt, sind Streiks im öffentlichen Dienst immer auch politische Auseinandersetzungen. Es geht um die Verwendung von Steuergeldern, den Stellenwert der öffentlichen Daseinsvorsorge und öffentlicher Dienstleistungen sowie um die Zukunft der Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Deshalb müssen diese Arbeitskämpfe, sollen sie erfolgreich sein, immer im öffentlichen Raum geführt werden. Man muss der Bevölkerung die Streikziele und die Notwendigkeit eines Streiks verständlich machen. Es schwächt einen Arbeitskampf, wenn etwa Eltern über Gebühr die streikenden Erzieherinnen unter Druck setzen, sich Bürgerinnen und Bürger massenhaft über wachsende Müllberge beschweren oder Pflegekräfte im Krankenhaus beschuldigt werden, Leib und Leben von Patientinnen und Patienten aufs Spiel zu setzen. Die Information der Bevölkerung durch Flugblätter oder Veranstaltungen wie Eltern- und Diskussionsabende und andere Aktivitäten ist unerlässlich. Bei einem aktiven Streik sind die Streikenden meist gerne bereit, diesen Aufgaben nachzukommen und ihre Forderungen und Standpunkte offensiv in der Öffentlichkeit zu vertreten. Notwendig für einen erfolgreichen Streik ist auch die Bereitschaft einer ausreichenden Zahl von Beteiligten, mit Journalistinnen und Journalisten zu sprechen, sich in den Medien abbilden zu lassen und dort brauchbare Statements abzugeben. In anderen Bereichen kann es sogar zu einem zusätzlichen Druckmittel werden, wenn sich Kundinnen und Kunden, Zeitungsleserinnen und -leser oder andere Bevölkerungsgruppen mit den Streikenden solidarisieren. Die öffentliche Skandalisierung von Arbeitsbedingungen und Bezahlung kann hierbei sehr hilfreich sein. Postkarten an die Geschäftsleitungen, die von Interessierten unterschrieben werden können, ebenfalls.

Genauso wichtig ist aber, dass der Streik offensiv und selbstbewusst in den öffentlichen Raum getragen wird und öffentliche Plätze und Straßen «erobert» werden. Dazu gehören regelmäßige Demonstrationen, Kundgebungen, Aktionen vor den Betrieben, Kundgebungen vor den Verhandlungslokalen oder Besuche bei den Arbeitgeberverbänden. Beim Streik der Erzieherinnen 2009 war es enorm wichtig, dass nicht nur in Stuttgart Demonstrationen und Kundgebungen stattfanden, sondern auch in den umliegenden Kreisstädten. Manche zählten aufgrund der hohen Teilnehmerzahl zu den größten öffentlichen Aktionen in der Region seit Jahrzehnten. Ein anderes positives Beispiel ist der lautstarke Streik von Sicherheitskräften in den Hallen der Flughafengebäude. Dabei entstehen nicht nur aussagekräftige und für die Medien interessante Bilder, sondern diese Art von Aktion stärkt auch das Selbstbewusstsein der Beteiligten und schafft die Möglichkeit für andere Personen und Gruppen, sich mit den Streikenden zu solidarisieren. Eine wohl prägende Erfahrung für uns alle war die gemeinsame Demonstration von 2.000 streikenden Erzieherinnen und Erziehern sowie etwa Zehntausend streikenden Schülerinnen und Schülern durch die Stuttgarter Innenstadt[BG10] . Nicht wenige Mütter gingen erstmals zusammen mit ihren Kindern auf der Straße, nicht zum Einkaufen, sondern zum Streiken und Demonstrieren.

8. Das Ergebnis muss den Streikenden schmecken, nicht der Verhandlungsführung

Es ist eine leidige und sich ständig wiederholende Erfahrung, dass Arbeitskämpfe selten zu Schultersiegen führen und alle Streikenden mit ihren Ergebnissen zufrieden sind. Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Zum einen kann es sein, dass die Gewerkschaft tatsächlich ihre Kampfkraft nicht ausgeschöpft hat und ein Ergebnis unter den tatsächlichen Möglichkeiten erzielt hat. Dann ist Kritik völlig berechtigt. Zum einem kommt es häufig vor, dass bei Flächentarifauseinandersetzungen die Kampfkraft regional sehr unterschiedlich entwickelt ist. Die einen würden lieber weiterstreiken, während den anderen bereits die Luft ausgeht oder andere sich noch gar nicht richtig am Streik beteiligt haben. Besonders ärgerlich ist es, wenn diese Zusammenhänge nicht transparent sind, sich die verschiedenen Beteiligten kein wirkliches Bild machen können und völlig von der Einschätzung der Gewerkschaftsführungen abhängig sind. Gerade bei ver.di ist es ein großes Problem, dass die Fähigkeit zum Streiken regional sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Das führt häufig zu Frust in den Streikhochburgen, wo die Beschäftigten durchaus bereit wären, für ein besseres Ergebnis weiterzustreiken, während andere froh sind, dass der Arbeitskampf endlich vorbei ist. Wir haben daraus folgende Schlussfolgerungen gezogen:

·         Wir lassen unsere Streikbereitschaft davon nicht beeinflussen. Unsere Botschaft ist immer: Wer besser streiken kann, muss vorangehen und ein positives Beispiel setzen.

·         Über die Verhandlungsstände und Tarifergebnisse wird offen auf den Streikversammlungen diskutiert. Hier wird ein Meinungsbild hergestellt. Gibt es Kritik, wird diese formuliert und in die innergewerkschaftliche Diskussion eingebracht. Die Kolleginnen und Kollegen sollen sich ihre Gewerkschaft aneignen und kein Dienstleistungsverhältnis zu ihrer Organisation entwickeln. Teilweise konnten wir sogar durchsetzen, dass nach dem Verhandlungsergebnis noch einen Tag länger gestreikt wurde, um auf der Streikversammlung über das Ergebnis zu diskutieren.

·         Der Entscheidungsprozess über das Tarifergebnis muss ebenfalls demokratisiert werden. Hier hat ver.di im öffentlichen Dienst ganz gute Ansätze entwickelt. So wurden bei verschiedenen Streiks, insbesondere beim Arbeitskampf der Erzieherinnen, bundesweite Streikdelegiertentreffen organisiert. Delegierte aus den Betrieben diskutierten gemeinsam über den Verhandlungsstand und über die weitere Vorgehensweise. Es wurde vereinbart, dass die große Tarifkommission nur dann einem Verhandlungsergebnis zustimmt, wenn es vorher dafür eine Mehrheit auf der Streikdelegiertenversammlung gegeben hat.

Dieser Weg ist vielversprechend und muss weiter verfolgt werden. Eine Arbeitsteilung, die so aussieht, dass die einen streiken und die anderen über das Streikergebnis entscheiden, ist auf die Dauer wenig erfolgversprechend. Diejenigen, die streiken, sollen auch über das Ergebnis entscheiden dürfen. Widersprüche und unterschiedliche Sichtweisen müssen offen benannt werden, Konflikte müssen ausgetragen und über Strategien und Ziele muss demokratisch entschieden werden. So entstehen lebendige Gewerkschaften, die den Mitgliedern nicht fremd sind.

Liebe Kolleginnen und Kollegen: Die Gewerkschaftsbewegung hierzulande befindet sich immer noch in der Defensive. Die Umverteilung der letzten Jahre von den Löhnen hin zu den Gewinnen ist einzigartig in der Nachkriegsgeschichte des Landes. Dass, wie bereits erwähnt, die Reallöhne unter das Niveau des Jahres 2000 gesunken sind, heißt, dass sich in der Summe das Kapital den gesamten Zuwachs des gesellschaftlichen Reichtums der letzten 13 Jahre aneignen konnte. Deshalb müssen die Gewerkschaften die Verteilungsfrage offensiv angehen und dürfen sich nicht damit abfinden, dass diese Entwicklung zu Lasten der Beschäftigten so weitergeht. Dazu gehört, dass in den Hochburgen der Gewerkschaften, in den industriellen Bereichen, im öffentlichen Dienst und anderswo, die vorhandene Kampfkraft eingesetzt wird, um höhere Löhne durchzusetzen. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die erneute Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums in Richtung der Arbeitenden. Damit würden wir im Übrigen auch unseren mit dem Rücken an der Wand stehenden, aber weiterhin kämpfenden Kolleginnen und Kollegen in Griechenland, Spanien, Portugal, Frankreich, Italien und anderswo einen großen Gefallen tun.

Gleichzeitig wissen wir, dass in fast keinem Industrieland die Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt und die Spaltung zwischen Niedriglöhnen und höheren Einkommen sowie zwischen Leiharbeiterinnen und -arbeitern, Menschen mit Werkverträgen und Tarifbeschäftigten, deren Löhne und Arbeitsbedingungen noch halbwegs geschützt sind, so groß ist wie in Deutschland. [BG11] Kaum irgendwo gibt es eine so extreme Kluft zwischen der Bezahlung von industrieller Arbeit und der Entlohnung von personennahen Dienstleistungen wie hier. Die große Aufgabe der Gewerkschaftsbewegung wird es deswegen sein, die Menschen in den deregulierten Berufszweigen und Branchen zu organisieren und mit ihnen für eine bessere Regulierung ihrer Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu kämpfen. Dazu gehört es, Ressourcen zu mobilisieren, aber auch Erfahrungen zu sammeln, auszuwerten und diese zu verallgemeinern. Diese Konferenz und hoffentlich auch die von mir zusammengefassten Prinzipien bieten eine Fülle von Beispielen, die zeigen, dass es möglich ist, Streiks auch in bisher eher wenig organisierten Bereichen erfolgreich zu führen und dabei eine Vielzahl neuer Methoden und Formen des Arbeitskampfes zu entwickeln, mit denen die Kräfteverhältnisse zu unseren Gunsten verschoben werden können. Wir sollten von unseren Gewerkschaften verlangen, dass Ehren- und Hauptamtliche speziell für diesen Zweck ausgebildet werden, dass sie die hier aufgeführten Methoden erlernen und sich aneignen, um den Mitgliedern und Beschäftigten eine Art großen Werkzeugkasten für die Führung von Streiks und Tarifauseinandersetzungen an die Hand zu geben. Diese Konferenz kann einen Beitrag leisten, zumindest den Grund dieses Werkzeugkastens schon einmal zu füllen.

In diesem Jahr stehen in Deutschland Tarifverhandlungen für etwa 12,5 Millionen Beschäftigte an[1]. Einige dieser Auseinandersetzungen werden kaum ohne Arbeitskämpfe über die Bühne gehen, wollen wir unsere Forderungen durchsetzen. Den größten Angriff müssen die 2,5 Millionen Beschäftigten im Einzelhandel abwehren, denen von den Arbeitgeberverbänden alle Tarifverträge gekündigt wurden. Deren eindeutiges Ziel ist es, das Eingruppierungsniveau drastisch zu senken und nach unten aufzufächern, und das in einer Branche, in der ohnehin nicht üppig bezahlt wird. Dies ist ein Konflikt, dem wir besondere Aufmerksamkeit widmen sollten. Die Kolleginnen und Kollegen dort brauchen dringend unsere Solidarität in einem Kampf, in dem es wieder einmal um Alles geht. Einige hier dargestellten Streikerfahrungen können dabei sicherlich hilfreich und nützlich sein.

Gleichzeitig muss uns allen klar sein, dass wir eine bessere Regulierung der Arbeitsverhältnisse nicht allein mit tariflichen Mitteln durchsetzen werden. Ohne Zweifel war die Herausbildung eines großen Niedriglohnsektors politisch gewollt, wie auch die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen und die nachhaltige Schwächung der Gewerkschaften, die damit verbunden ist. Auch die strukturelle Unterfinanzierung des öffentlichen Sektors war und ist politisch gewollt. Der finanzgetriebene Kapitalismus funktioniert nach dem Motto Anhäufung privaten Reichtums in wenigen Händen, bei gleichzeitiger Ausbreitung öffentlicher Armut. Die 900.000 Beschäftigten der Länder spüren das gerade besonders. Mit dem Hinweis auf klamme Kassen und die Schuldenbremse verweigert man ihnen in der aktuellen Tarifrunde bisher jegliches Angebot.

Wir brauchen ohne Zweifel andere politische Rahmenbedingungen und letztlich auch mehr politische Kämpfe, um unsere Ziele wie einen im Interesse der Beschäftigten fungierenden Arbeitsmarkt sowie eine ordentliche Finanzierung des öffentlichen Sektors zu erreichen. Dazu müssen die Gewerkschaften ihr politisches Mandat wahrnehmen, das heißt, betriebliche und tarifliche Auseinandersetzungen mit politischen Forderungen verbinden. Wir brauchen zum Beispiel dringend den Abbau der Hürden für die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, damit es wieder normal wird, dass Beschäftigte unter Tarifverträge fallen. Wir müssen außerdem für eine Ende der Lohnbremsen kämpfen. Hierzu zählen die Disziplinierungspeitsche Hartz IV, die krebsartige Ausdehnung von Befristungen, Leiharbeit, Werkverträgen sowie Mini- und Midijobs, das Fehlen eines gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohns sowie die strukturelle Unterfinanzierung des öffentlichen Dienstes. Wenn wir daran nichts ändern, gleichen die betrieblichen und tariflichen Auseinandersetzungen der bekannten Sisyphusarbeit, die darin besteht, den Stein immer wieder aufs Neue auf den Berg heraufzurollen. Die tariflichen und politischen Kämpfe gehören zusammen, auch wenn dieses Thema nicht der Hauptgegenstand dieser Konferenz ist. Und gestattet mir dazu noch einen einzigen parteipolitischen Satz zum Schluss. Die Existenz einer starken und handlungsfähigen LINKEN in den Parlamenten kann bei der Durchsetzung von politischen Forderungen durchaus hilfreich und nützlich sein.

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit


[1] Zum Zeitpunkt des Vortrages waren diese Verhandlungen noch nicht abgeschlossen.


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