Bernd Riexinger: System Change

Leseprobe

Ausgangssituation

Ein neues Jahrzehnt hat begonnen, und wir stehen an einem historischen Wendepunkt. Lange schon schwelen verschiedene Krisen des Kapitalismus: Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise, Klimawandel, Grenzen des Wachstums, soziale Ungleichheit, Zusammenbruch der öffentlichen Daseinsvorsorge und das Gefühl von vielen, dass die Gesellschaft nicht mehr zusammenhält. Corona hat diese Vielfachkrise des Kapitalismus verschärft und zugespitzt. In zahlreichen Ländern kam das öffentliche Leben im Lockdown zum Erliegen. Das hat dramatische Folgen für die Volkswirtschaften, die vor dieser neuen Weltwirtschaftskrise bereits stagnierten.

Die Bundesregierung und die Europäische Union haben ein Bündel von Sofortmaßnahmen auf den Weg gebracht, um der Krise entgegenzuwirken. Dabei wurden langjährige Mythen, wie die über die vermeintlichen „Selbstheilungskräfte“ des Marktes und die zwingende Notwendigkeit des Verzichts auf staatliche Neuverschuldung („schwarze Null“), zumindest vorübergehend über Bord geworfen. Der Staat kann innerhalb kürzester Zeit gewaltige Summen mobilisieren, nachdem jahrzehntelang notwendige Investitionen in die Gesundheitsversorgung, Bildung, den sozialen Wohnungsbau oder für armutsfeste Sozialsysteme verweigert wurden.

Corona-Krise als Problemverschärfer

Die Politik der Haushaltskürzungen und Ausgabenzurückhaltung hat Verwüstungen im Zentrum des öffentlichen Lebens angerichtet. Die Orte sind bekannt: Schulen, in denen der Kalk von der Decke rieselt und die Toiletten verkommen, Kindertagesstätten mit langen Wartelisten, überfüllte Hochschulen, Krankenhäuser und Altenpflegestätten, in denen seit Jahren massiver Pflegenotstand herrscht. Stationen oder Krankenhäuser werden geschlossen, weil sie keinen Profit abwerfen, der Mietwohnungsmarkt wird der Spekulation überlassen und das öffentliche Verkehrssystem ist zu einem Thema öffentlichen Ärgernisses geworden. Diese Missstände prägen den Alltag von Millionen Menschen.

Anders als in der Finanzkrise wurde während der Corona-Pandemie sichtbar, dass Beschäftigtengruppen für das individuelle und gesellschaftliche Leben unerlässlich sind, deren Arbeit meist schlecht bezahlt wird und deren Arbeitsbedingungen prekär sind: Pfleger*innen und Reinigungspersonal, Beschäftigte im Lebensmitteleinzelhandel, in der Postzustellung und Logistik und viele andere mehr. Praktisch über Nacht wurden sie zum „Garant[en] der kritischen Infrastruktur“, so Sighard Neckel (2020). „Unterbezahlte Kassiererinnen, die kürzlich noch wegen Pfandbons von ein paar Euros fristlos gekündigt werden konnten, bekommen plötzlich allerorts gesellschaftliche Anerkennung ausgesprochen.“ Neckel umreißt, was eine linke Alternative sein muss und LINKEs Programm ist: „Prekär Beschäftigte wie Zusteller und Lagerarbeiter sichern die Versorgung auch der Wohlhabenden. Bedienstete wie Polizisten, Pflegekräfte oder kommunale Angestellte halten Grundfunktionen aufrecht, für die sich die Märkte nur als kostengünstige Mitnahmeeffekte interessieren.

Damit sollte Schluss sein. Ja, wir brauchen eine Art Infrastruktursozialismus, der nicht nur die elementaren Funktionen als hochwertige öffentliche Güter betreibt. Ja, wir brauchen eine Umwertung der ökonomischen Werte. Die Nützlichkeit und Unverzichtbarkeit gesellschaftlicher Leistungen muss in der Staffelung von Erträgen vorrangig sein. Wir können ziemlich sicher auf etliche Consultants und Derivatehändler verzichten, aber auf keine einzige Pflegekraft im Krankenhaus. Daher brauchen wir nicht nur ganz andere Mindestlöhne, sondern vor allem verbindliche Regelungen für Maximaleinkommen.“ Doch die Hoffnung, dass sich das nach Corona in kräftigen Lohnerhöhungen niederschlagen würde, ist enttäuscht worden.

Die Regierung belässt es beim Beifall klatschen. Millionen Beschäftigte, die mit mageren Löhnen kaum über die Runden kommen, gehen bei den großzügigen Wirtschaftshilfen leer aus. Dabei wird immer wieder betont, dass die Nachfrage gestärkt werden soll. Einige der einfachsten Mittel dazu wären, staatliche Unternehmensförderung an Tarifbindung zu koppeln, Flächentarifverträge einzuführen und den Mindestlohn kräftig zu erhöhen. Damit würde vielen Beschäftigten wirklich geholfen. Für Erwerbslose und Hartz-IV-Bezieher*innen war von vornherein nichts vorgesehen. Mit Armut und Ausgrenzung findet sich die Bundesregierung offenbar ab.

Das 130 Mrd. Euro schwere Konjunkturprogramm der Bundesregierung, das im Juni 2020 auf den Weg gebracht wurde, soll vor allem die Marktführerschaft der deutschen Industrie sichern. Was hingegen in die öffentliche Infrastruktur fließt, soll lediglich Corona-Löcher stopfen helfen. Der Investitionsstau der letzten Jahrzehnte wird damit nicht ansatzweise beseitigt. Mehr noch: Die Lufthansa allein bekommt doppelt so viel Geld, wie der Corona-Kinder-Bonus für die Familien insgesamt kostet. Dem Konzern werden dabei nicht einmal Auflagen im Hinblick auf die Sicherung von Arbeitsplätzen oder beim Klimaschutz gemacht. Hauptaktionär Heinz Hermann Thiele, einer der reichsten Männer der Welt, wurde so die Entscheidung überlassen, ob er mehr Geld mit einer Insolvenz oder mit der Annahme des Rettungspakets verdienen möchte. Lohnverzicht und Abbau von über 20.000 Stellen wurden nicht infrage gestellt. Die Regierung hielt sich raus.

Es geht beim Konjunkturprogramm in erster Linie um kurzfristige wirtschaftliche Stabilisierung, verbunden mit einer ohnehin anstehenden Modernisierung des Kapitalismus. Die Exportorientierung der Industrie bleibt unangetastet. Damit ist die deutsche Wirtschaft weiterhin darauf angewiesen, dass andere Staaten Schulden machen, um Waren und Dienstleistungen von in Deutschland ansässigen Unternehmen zu kaufen, darunter auch Elektroautos. Einen grundlegenden Richtungswechsel, einen sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, befördert die Große Koalition nicht.

Der Kapitalismus ist auf Wachstum der Profite angewiesen. Doch in einer Welt endlicher Ressourcen und begrenzt belastbarer Ökosysteme mündet das in Katastrophen. Die Ausbeutung der Naturressourcen und die Belastung der Umwelt hält der Planet Erde nicht aus. Der Kapitalismus stößt an die Grenzen der natürlichen Ressourcen und an die Grenzen seines Modells der Verwertung. Grundlegende Änderungen der Wirtschafts- und Lebensform werden zur Überlebensfrage. Nicht nur die Menschen, die für Klimaschutz auf die Straße gehen, wissen, dass wir nicht so weitermachen können.

Klimakrise: die größte Herausforderung für die Menschheit

Der Klimawandel zerstört die Lebensgrundlagen von Millionen Menschen. Am stärksten betroffen sind die ärmeren Teile der Weltbevölkerung im globalen Süden. Langanhaltende Hitze im Sommer und Dürreperioden schwächen aber auch die Landwirtschaft im Norden. Die bisher angekündigten Maßnahmen der Regierungen der Welt bleiben dramatisch hinter den Erfordernissen zurück. Sie werden die Erderwärmung nicht auf 1,5 bis 2 Grad begrenzen können.

Wird nicht radikal umgesteuert, ist dies das Todesurteil für die Menschen, deren Zuhause geflutet und deren Ernten entweder vertrocknen oder überschwemmt werden. Hunger, Not und Kriege um Ressourcen werden folgen. Nach Einschätzung des Weltklimarates IPCC bleiben uns nur noch etwa 15 Jahre Zeit. Die Bedrohung durch den Klimawandel wird in den nächsten Jahren mehr und mehr die wirtschaftliche Entwicklung erfassen. Versicherungskonzerne und Unternehmensberater rechnen mit Billionen Verlusten in den kommenden Jahrzehnten. Ihr Blick gilt dabei aber weniger den betroffenen Menschen als ihren Aktionären und Klienten.

Die USA, Australien und Brasilien bremsen am stärksten die Maßnahmen zum Klimaschutz. Es handelt sich nicht zufällig um Länder, die von rechten Präsidenten regiert werden. Aber auch Deutschland verfehlt seine Klimaziele deutlich. Der bis 2038 geplante Kohleausstieg kommt zu spät. Der Ausbau der regenerativen Energieträger ist wenig ambitioniert, der Ausbau der Windenergie sogar weitgehend zum Erliegen gekommen. Die Existenz der gesamten Branche ist unklar. Das 2019 auf den Weg gebrachte Klimapaket bringt zwar einige wenige Fortschritte, aber es reicht nach Überzeugung der Klimaforschung nicht, um eine Trendumkehr einzuleiten.

Umweltverbände warnen, dass die Klimakrise in der Zeit der Pandemie in den Hintergrund gedrängt wird. Die Unsummen, die in die Wirtschaft gepumpt werden, wirken wie Sprit, der den Motor am Laufen halten soll, während das Auto weiter in die falsche Richtung fährt. Durchaus wörtlich: Zwar konnten eine Abwrackprämie und die Förderung von spritschluckenden Limousinen abgewendet werden, aber es fließen weiter über 20 Mrd. Euro an direkten und indirekten Subventionen in die Autoindustrie. Mit der Elektromotorisierung stehen wir am Beginn eines massiven Umbaus in der Automobilindustrie und der mit ihr verbundenen Branchen. Neue Technologien und Produktionsmodelle werden erhebliche Folgen für Arbeitsplätze, Entlohnung und Qualifizierung auch in den Dienstleistungsbranchen haben. Die meisten Lohnabhängigen wissen, dass sich etwas verändern muss, gleichzeitig haben sie Angst um ihre Arbeitsplätze und ihre Zukunft.

Das Bild ist immer das gleiche: Kriselt „die Wirtschaft“, leiden zuerst diejenigen in der Gesellschaft, die keine Rücklagen bilden können und deren Arbeitsplätze auf den Abschusslisten stehen. Geht es „der Wirtschaft“ hingegen gut, profitieren davon längst nicht alle. Auf Kosten des Klimas geht es wiederum immer. Es sei denn, wir schaffen es, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

 

Bernd Riexingers: „System Change - Plädoyer für einen linken Green New Deal“,

VSA: Verlag, 144 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-96488-067-3